Das Bundesgericht hat mit Entscheid BGer vom 02.06.2025, 2C_611/2024 (zur Publikation vorgesehen) die Anforderungen an die berufsrechtliche Sorgfaltspflicht für Verteidiger präzisiert.
Im zugrunde liegenden Fall war ein Pflichtverteidiger während des Berufungsverfahrens mit einem fehlenden Erscheinen der Berufungsklägerin konfrontiert. Die Berufungskammer erklärte die Berufung daraufhin als zurückgezogen und hob das Mandat des Verteidigers auf. Der Verteidiger hatte sich im Verfahren auf die rechtliche Einschätzung der Kammer verlassen und keine eigenen prozessualen Anträge gestellt. Dafür erhielt er von der kantonalen Aufsichtsbehörde eine Verwarnung wegen angeblicher Verletzung der Sorgfaltspflicht, was später durch die kantonale Gerichtsbarkeit bestätigt wurde.
Das Bundesgericht hebt diese Verwarnung auf. Es hält klar fest, dass die Sorgfaltspflicht den Anwalt verpflichtet, die Interessen des Mandanten sorgfältig zu vertreten. Jedoch sind Disziplinarsanktionen – selbst bei weniger schwerwiegenden Fehlern – nur dann gerechtfertigt, wenn ein grober technischer oder strategischer Fehler vorliegt oder der Anwalt absichtlich entgegen den Klienteninteressen handelt (E. 4.2). Im vorliegenden Fall durfte der Verteidiger angesichts der Umstände auf das Einschreiten der Berufungskammer vertrauen. Weder das Unterlassen eines eigenen Antrags noch die Überlassung der rechtlichen Beurteilung an das Gericht steigert sich zu einer gerichtlich sanktionswürdigen Pflichtverletzung.
Der Entscheid stärkt die Handlungsspielräume von Verteidigern und macht deutlich, dass nicht jeder Verfahrensentscheid, der im Nachhinein als suboptimal erscheint, disziplinarisch geahndet werden kann. Selbst in komplizierten Prozessen darf auf die Einschätzung des Gerichts vertraut werden, solange kein grober Fehler oder ein Verstoss gegen die Interessen des Mandanten vorliegt.
Wie beurteilen Sie die Grenze zwischen zulässigem prozessualem Ermessen und sanktionswürdigem Fehlverhalten?